Empfang zum Buß- und Bettag: Jürgen Wiebeckes leidenschaftliches Plädyoer für eine demokratische Gesellschaft
MARL – Ein leidenschaftliches und zugleich nachdenkliches Plädoyer für unsere demokratische Gesellschaft und Verfassung stand im Mittelpunkt des Empfangs des Evangelischen Kirchenkreises Recklinghausen zum Buß- und Bettag. Der Journalist, Autor und Philosoph Jürgen Wiebicke war zu Gast in der Dreifaltigkeitskirche in Marl.
Den Bußtag weniger als Tag der Reue, sondern mehr als Tag des Umdenkens zu interpretieren, dazu regte Katrin Göckenjan-Wessel, Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises, in ihrem Eingangsimpuls an. Auch das Engagement der christlichen Gemeinden für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sehe sich heute immer stärker Aggressionen von Rechts ausgesetzt. „Es ist notwendig zu widerstehen“, so die Superintendentin. Hier könne es hilfreich sein, den Begriff des „schwachen Denkens“ in Betracht zu ziehen, den der italienische Philosoph Gianni Vattimo und andere formuliert haben. Die Liebe beinhalte gerade im christlichen Sinne die Kraft des Widerstandes gegen den Hass.
Diesen Gedanken greift auch Jürgen Wiebecke auf. „Schwaches Denken“ interpretiert er allerdings säkularer: „Sich eingestehen: Ich kann auch irren, abrüsten in der Konfrontation.“ Vor zwei Jahren hat Jürgen Wiebicke ein Buch geschrieben, das den Titel trägt: „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“. Auslöser war die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten. „Allerdings hat mich dieser Anlass eigentlich nur dazu gebracht, das aufzuschreiben, worüber ich in den letzten 20 Jahren schon oft nachgedacht hatte“, sagt Wiebicke im Gespräch.
Jürgen Wiebicke studierte in Köln Philosophie und Germanistik. Im Anschluss volontierte er beim Sender Freies Berlin und war dort Redaktionsleiter. Seit 1997 arbeitet er als freier Journalist, vor allem für den Hörfunk. Er ist im Deutschlandfunk in der „Länderzeit“ und im WDR 5 in „Neugier genügt“ zu hören. Jeden Freitagabend moderiert er im deutschsprachigen Hörfunk die einzige Philosophie-Sendung mit Hörerbeteiligung: „Das philosophische Radio“.
Raus aus der Komfortzone und politisch aktiv werden: Dazu forderte Jürgen Wiebicke seine Zuhörerinnen und Zuhörer in Marl auf. Wenn sich die Veränderungen der politischen Landschaft der letzten fünf Jahre so fortsetzen würden, dann „haben wir in fünf Jahren Faschismus“, so Wiebicke. Aber sein Ansatz ist nicht die Schwarzmalerei. Vielmehr sieht er in der gegenwärtigen Situation eine große Chance: „So viel wie jetzt, ist schon lange nicht mehr über Demokratie nachgedacht und geredet worden“, sagte er. Diese Chance könne genutzt werden. „Wir sind zurzeit in einer Phase der Orientierungslosigkeit, aber Demokratie ist nichts Fertiges“, so Wiebicke. „Sie ist eine Art zu leben.“ Die positiven Ressourcen der Menschen müssten genutzt werden, die „Wohlstandsverwahrlosung“, in der wir uns befinden, müsse aufgebrochen werden. Entscheidend für eine Demokratie sei eine aktive Zivilgesellschaft, in die Menschen sich einbringen. Der Autor plädierte dafür, sich in demokratischen Parteien zu engagieren: „Macht ist nichts Ekliges. Die eigentliche Sphäre der Freiheit ist die Politik. Politisch Handeln heißt: Ich gestalte mein Leben.“
Die anschließende lebhafte Diskussion wurde von Pfarrer Dr. Hans Hubbertz moderiert. Für ein musikalisches Intermezzo sorgte Pfarrer Gert Hofmann am Klavier. (JW / Foto: v.l. Pfarrer Dr. Hans Hubbertz, Jürgen Wiebicke, Superintendentin Katrin Göckenjan-Wessel)